In die Befreiung

Von | 12. Juni 2015

DEM SEGEN ENTGEGEN

Wir sind gern unterwegs. Die Zeit des Urlaubs nährt diesen ‚Trieb‘. Unterwegs sind wir in solcher Zeit besonders, um uns zu ‚erholen‘, gleichsam etwas Neues und Belebendes ‚einzuholen‘.

Manchmal geht die ‚Rechnung‘ nicht auf.  Unsere Aufbrüche sind dann anstrengend; ‚Aufwand‘ und ‚Ertrag‘ stehen nicht im Gleichgewicht.

Ich fand diese Betrachtung, die an einer alten Erzählung verdeutlicht, was – häufig verdeckt – hinter unseren Aufbrüchen sich verbirgt und ‚befreit‘ sein möchte.


23 In derselben Nacht stand er auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde sowie seine elf Söhne und durchschritt die Furt des Jabbok.
24 Er nahm sie und ließ sie den Fluss überqueren. Dann schaffte er alles hinüber, was ihm sonst noch gehörte.
25 Als nur noch er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg.
26 Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er ihn aufs Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang.
27 Der Mann sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Jakob aber entgegnete: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest.
28 Jener fragte: Wie heißt du? Jakob, antwortete er.
29 Da sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel (Gottesstreiter); denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und hast gewonnen.
30 Nun fragte Jakob: Nenne mir doch deinen Namen! Jener entgegnete: Was fragst du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn dort.
31 Jakob gab dem Ort den Namen Penuël (Gottesgesicht) und sagte: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen.
32 Die Sonne schien bereits auf ihn, als er durch Penuël zog; er hinkte an seiner Hüfte.
33 Darum essen die Israeliten den Muskelstrang über dem Hüftgelenk nicht bis auf den heutigen Tag; denn er hat Jakob aufs Hüftgelenk, auf den Hüftmuskel geschlagen.

Genesis 32, 23-33


Losziehen und alles hinter sich lassen. Raus aus dem Hamsterrad, raus aus der Arbeit, der Schule, den üblichen Kreisen, in denen wir uns täglich bewegen. Raus und endlich Urlaubs-Freiheit! Ein anderer sein dürfen – was für eine Aussicht! Die Ferien-tage locken und wir freuen uns darauf. Wir haben sie uns verdient.

Doch wenn das Rad stehen bleibt und der Hamster sich wohlig am Strand in der Sonne räkeln will, dann kann es ihm ergehen wie Jakob am Jabbok: Plötzlich ist alles da, was sich sonst im Alltag versteckt, die Fragen an mein Leben, die ich immer noch nicht in den Griff bekommen habe. Beziehungen verlieren den gewohnten Rahmen, verdrängte Schuld und Versagen treten hervor. Das ganze Gruselkabinett. Jetzt muss ich dem ins Gesicht sehen. Keine Aufgabe lenkt mich ab, auch nicht der Krimi neben mir, der schon Sand zwischen den Seiten hat.

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20 Jahre ist es her, so erzählt die Bibel, da ist Jakob auch los gezogen, allerdings nicht in den Urlaub. Er flieht vor der Wut seines älteren Bruders Esau, weil er den Segen des blinden alten Vaters und damit das Erbe mit einer List an sich gebracht hat. Jakob, der Hinterlistige, so heißt er nicht zu Unrecht. Jakob rennt und rennt und entkommt in den Alltag bei Onkel Laban. Er gewöhnt sich ein in das Leben eines Schafe- und Ziegenzüchters und Ehemanns zweier Frauen. Die eigene Schuld schiebt er weg und auch die Wut seines Bruders. Das Heimweh schweigt in den Armen seiner Frauen, vor allem in den Armen Rahels.

Doch jetzt will er zurück, in die Heimat, will die Last loswerden, sich versöhnen. Er kommt an die Grenze, den Fluss Jabbok und der Augenblick der Wahrheit ist da. Die Schuld steht ihm klar vor Augen. Er sieht sich selber, wie er vor dem Vater kniet und merkt: Er will frei sein, frei von der Schuld, frei für ein Ja zu seiner Person, frei von dem Namen Jakob, der Hinterlistige. Er will den Segen Gottes und neu anfangen.

Da wird er angegriffen von einer Gestalt, Gott oder Engel. Er ringt im Dunklen mit dem, dessen Segen, dessen Ja er sich mehr als alles andere wünscht. Gott macht es ihm nicht leicht. Jakobs Schuld ist groß. Eine ganze Nacht geht der Kampf. Doch dann, kaum zu glauben: Gott sagt: ,Genug‘ und will gehen. Doch Jakob hält ihn fest: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest, sagt er und Gott willigt ein. Israel heißt er von nun an, ,Gott streitet für uns‘.  Und ein neues Leben beginnt. Die Versöhnung mit seinem Bruder Esau, einst kaum vorstellbar, geschieht ganz leicht und die Geschichte eines großen Volkes beginnt.

Wer aus dem Hamsterrad aussteigt und zum Strand möchte, dem kann es geschehen, dass er sich unversehens am Jabbok wiederfindet, mit den Gespenstern der Vergangenheit ringt, mit all dem, was im Alltag weggeschoben und nicht gesehen wird. Weglaufen vor dem Moment? Rein in die Strandbar oder Sehenswürdigkeiten auf sich niederprasseln lassen? Das wäre schade. Denn es kann uns geschehen, dass Gott sich in unseren Kampf einmischt, wenn wir uns stellen. Dann könnten wir befreit und mit seinem Segen nach Hause fahren und sind uns selber näher gekommen. Ein anderer, eine andere sein dürfen auch im Hamsterrad, das auf uns wartet – ein Abenteuer im Alltag. Ein Versuch wäre es wert.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen spannende, befreiende und natürlich auch erholsame Sommertage.

Bodo Boehnke,
Pastor, Walburgis-Gemeinde Venne

Entnommen aus Gemeindebrief  III72015


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