GEDICHTE ZUM HERBST

Von | 2. Oktober 2022

HERBST –
ZEIT DER TRÄUME UND EINSICHTEN

Dies ist der Herbst

„Dies ist der Herbst“: wenn sich die Fülle in die nackte Leere
Hinüber neigt.
Dies ist der Herbst: die bunte, volle Schwere
Der Schönheit in den Parks und Gärten schweigt –

Dies ist die Totenstille der Erfüllung.
Im blauverhangnen Land liegt ein Schein,
An weißen Wänden, an Veranden glüht der Wein,
In einen Garten tritt ein Mädchen ein
Und atmet kaum. –
Die Stille der Erfüllung

Liegt wie ein Rausch bunt, feierlich und schwer,
Groß wie ein Staunen überm Land, und matt
(Ganz ohne Laut) fällt Blatt um Blatt
In Kies, in Sand, welkenden Rasen, der
Nicht mehr geschoren wird. – Herbstdüffte hauchen
Süß in die Luft; verschwimmen, schwinden, kehren
Zu dir zurück; und sind mit ihrer schweren
Dunkelnden Schönheit um dich. Alle Dinge tauchen

Sich in die weiche Flut des stillen Glanzes.
Dies ist der Herbst: Die Fülle steht und schweigt. –
In roter Abendsonne, die sich neigt,
Löst sich die Schwere dieses Tages leicht in das Schweben eines Mückentanzes.
Karl Röttger · 1877-1942 *

 

Wer lacht jetzt noch …

Wer lacht jetzt noch, wenn vor der Stadt
Der kühle Wind die Wiesen bleicht
Und gegen Abend jedem matt
Ums Antlitz streicht?

Wenn jetzt im Herbst das erste Blatt
Gelb wird und fällt und jenen gleicht,
Die vor den breiten Türen satt
Viel fragen: Was ist jetzt erreicht?

Ist viel erreicht! Weil jedes Blatt
Den eigenen Gedanken gleicht.
Was blüht und Frucht getragen hat,
Vergeht ganz leicht.
Vergeht ganz leicht.

Guido Zernatto · 1903-194*

* www.lyrikmond.de

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süsse in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke, 1875-1926, österreichischer Dichter, Schriftsteller


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