Gang nach innen

Von | 1. Oktober 2021

ERINNERUNG AN BALANCE

 

1. Oktober 2021

Nach einer Woche Stille, Gebet und Begegnung in Taizé bin ich auf der Rückfahrt und stürze durch einen Moment der Unachtsamkeit zu Boden. Ich bin verletzt, muss mich in die Obhut einer orthopädischen Klinik begeben, werde am gebrochenen Hüftgelenk operiert, lasse mich bei folgender  Rehabilitation stabilisieren. Nach fast zwei Monaten bin ich nach Hause zurückgekehrt und schreibe Euch diesen Brief.

Ich bin neu erinnert. Erinnert an das, was ins Gleichgewicht bringt. Über zwei Monate  brauchte ich Hilfsmittel, um beim Gehen in der Balance zu bleiben.

Was aber bringt wirklich in die innere Balance. Ich kam aus Taizé, diesem Ort, der eine Gestaltung vorhält, die in einer Woche und über die mehr als fünfzig Jahre, die ich diesen Ort aufsuche, sie als Selbstverständlichkeit lebt. Jeder Tag ist in seiner Struktur von dem ‚Gang nach innen‘ – morgens, mittags und abends geprägt. Haltepunkte im Gebet, im Singen und im Schweigen, die gemeinsame Arbeit und Begegnungen mit bestimmen.

Mit solcher erlebten Struktur-Selbstverständlichkeit machen sich alle Teilnehmenden nach einer Woche wieder auf den Weg in ihren Alltag. Nach einem Sturz, weil ich den Tritt am Ausgang unseres Wohnwagens verfehlte,  landete ich jäh im Krankenhaus, wurde auf die 2,5 Stunden lange Operation kurzfristig vorbereitet: ‚Wir müssen sofort operieren – sie werden wieder aufwachen‘.

In Taizé hatten wir in der Einführung zu einen Bibeltext  diesen  in seiner Tiefe ausgelotet:
Eines Tages, als Jesus wieder lehrte, saßen unter den Zuhörern auch Pharisäer und Gesetzeslehrer; sie waren aus allen Dörfern Galiläas und Judäas und aus Jerusalem gekommen. Und die Kraft des Herrn drängte ihn dazu, zu heilen.
18 Da brachten einige Männer einen Gelähmten auf einer Tragbahre. Sie wollten ihn ins Haus bringen und vor Jesus hinlegen.
19 Weil es ihnen aber wegen der vielen Leute nicht möglich war, ihn hineinzubringen, stiegen sie aufs Dach, deckten die Ziegel ab und ließen ihn auf seiner Tragbahre in die Mitte des Raumes hinunter, genau vor Jesus hin.

Ich lege meine Hände gefaltet auf die Brust. Vor Augen habe ich das offengelegte Dach, durch das der Gelähmte herabgelassen wurde. Ich habe helles Licht vor Augen, das durch die Öffnung auf mich fällt. Dann schlafe ich ein.

Konkret habe ich diesen ‚Gang nach innen‘ in diesem Moment als ganz wesentliche Instanz in meiner Existenz erlebt. Dieser Moment ist der, den wir als ‚Kairos‘* bezeichnen. Ein einzigartiger Moment der Gotteserfahrung. Ich bin so dankbar, dass wir diese Unmittelbarkeit wie ein Geheimnis in uns tragen, in der Krise unmittelbar erlebbar: Eine Erinnerung wird belebt, ein Wort lässt nicht mehr los, eine Situation führt zum Gebet  …

Ich habe ein neues Verhältnis zur ‚Krise‘ erhalten. Krise hat aus dem Griechischen übersetzt die Bedeutung ‚Entscheidung‘. In einer existenziellen Entscheidungssituation sich vertrauend an diese Instanz wenden zu können, ist das Größte, über das wir verfügen. Diese Erfahrung ist gleichsam an Krisen gebunden. In der eigenen Verwundbarkeit ereignet sie sich. Wie häufig habe ich es gehört und in Gewissheit weitergegeben: Unsere Verletzlichkeit ist die Tür, durch die ‚Gott’es-Erfahrung eintritt.

‚Hast du eine Krise?‘ wird plötzlich zu einem deutenden Hinweis, dass jetzt etwas Entscheidendes geschehen kann. Kräfte werden mobilisiert, die Widerstandskraft (Resilienz) gestärkt – und das nachhaltig!

*‚Kairos ist ein religiös-philosophischer Begriff für den günstigen Zeitpunkt einer Entscheidung, dessen ungenutztes Verstreichen nachteilig sein könnte. In der griechischen Mythologie wurde der günstige Zeitpunkt als Gottheit personifiziert (Wikipedia).

Euer

Wenn ihr dazu mehr erfahren möchtet, nehmt gern KONTAKT zu mir auf.


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