Solidarität mit Vertriebenen und Geflohenen

Von | 8. November 2013

 

UNTER DEM ‚KAINS‘-ZEICHEN

Solidarität mit Vertriebenen und Geflohenen

 OLYMPUS DIGITAL CAMERASpuren von Namenlosen?

Vertrieben zu sein, flüchten müssen ist eine unbeschreibliche Not. Nicht ankommen dürfen, nicht wirklich erwartet und gewollt zu sein, macht die Not unermesslich. Wir sind in der Situation, mit dieser Not unmittelbar konfrontiert zu sein. Vertriebene und Geflohene stehen vor ‚unseren Türen‘. Sie fordern heraus und fordern zur Solidarität auf. Solidarität heißt ja, die Not wirklich mitzufühlen und daraus zu reagieren.

Wirkliches Mit-Fühlen kann nur dann gelingen, wenn Vertreibung und Flucht auch im eigenen Bewusstsein Platz hat. Ich selbst gehöre zur Zweiten Welt-Kriegs-/Nachkriegsgeneration, die Vertreibung und Flucht konkret erlebte. Als siebenjähriger Junge erlebte ich die Einquartierung von Flüchtlingen. Plötzlich galt es, mit mir völlig fremden Menschen den angestammten Lebensraum teilen zu müssen. Ich erinnere Faszination – ein vier Jahre älteres Mächen und ihre Mutter lebten mit uns drei Jungen unter einem Dach – aber ich spüre auch heute noch das Unverständnis, wieso wir teilen mussten.

Heute gibt es keine Zwangs-Einquartierung. Wir stehen aber dennoch unter einem gewissen ‚Zwang‘. Wir können nicht einfach wegschauen. Die Maßnahmen gegen Grenzübertritte einerseits und die qualvollen Untergänge im Mittelmeer andererseits berühren zunehmend mehr Menschen. Wir müssen die existentielle Bedeutung von ‚Zu Hause‘ und von ‚Heimat‘ angesichts der aktuellen Herausforderungen für uns neu begreifen – der erste Schritt zur Solidarität ohne Frage nach ’schuldhaften Verstrickungen‘. 

Eine selbst ‚verschuldete‘ Vertreibung steht in der bildhaften Überlieferung biblischer Tradition unter der Zusage von Solidarität. Das Bild vom ‚Kains‘-Zeichen ist für mich hier richtungweisend.


9 Da sprach Gott zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? 10 Gott sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. 11 So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. 12 Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein. 13 Kain antwortete Gott: Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte. 14 Du hast mich heute vom Ackerland verjagt und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein und wer mich findet, wird mich erschlagen. 15 Gott aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde. 16 Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden. Genesis 4, 9-16


In unserer Zeit greift zunehmend eine ‚innere Heimatlosigkeit‘ und nicht wenige leben unter der Vorstellung: ‚Ubi web, ibi patria‘ – Wo es ein Netz gibt, da ist meine Heimat. Ich meine, dass diese innere Entfremdung Solidarität mit den flüchtenden und Obdach suchenden ‚Fremden‘ mindestens erschwert. Wir brauchen als Voraussetzung für Solidarität innere ‚Beheimatung‘.

OLYMPUS DIGITAL CAMERAEntfremdung überwinden

Wirklich ’nach Hause‘ kommen wir nur in der Liebe. Liebevoll müssen wir zunächst in uns selbst Heimat finden. ‚Statt als Emigranten des eigenen Herzens zu verharren, brauchen wir die Anbindung an unser eigenes gutes Selbst‘, lese ich bei Mathias Jung, Autor und Philosoph (Publik Forum Extra 2/09).

Bilanz.

Manchmal scheint es mir, dass die Sehnsucht nach Geborgenheit ausgezogen, vertrieben und auf der Flucht ist. Unser vielfältiges Bemühen versteht sich auch als Ringen, die verlorene Heimat wieder zu finden. Ich denke, dass  notwendende Solidarität auffordert, die eigene Leere, die ‚Heimatlosigkeit‘ und wenigstens die Sehnsucht danach nicht zu verdrängen. Dieser Weg zu sich selbst ist auch der Weg zu Mitfühlen und Solidarität.


Um die Heimat, von der sie äußerlich getrennt waren, innerlich nicht zu verlieren …

In seinen „Geständnissen“ aus dem Jahr 1854 spricht Heinrich Heine von der Bibel als dem „portativen Vaterland“ der Juden. Das Wort portativ meint: tragbar. Die Bibel als tragbare, transportable Heimat. Heine meint natürlich die Hebräische Bibel. Er stellt sich vor, dass „die Juden das heilige Buch aus dem großen Brande des zweiten Tempels gerettet“ hätten. Als also römische Truppen 70 nach Christus den Jerusalemer Tempel weitgehend zerstörten, sei das heilige Buch gerade noch rechtzeitig aus dem Gebäude entfernt und so gerettet worden. Die Juden hätten es dann „im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumgeschleppt das ganze Mittelalter hindurch“. Heinrich Heine, selbst jüdischer Herkunft, weiß, wovon er spricht. Er spielt auf die große Bedeutung der Bibel an, die sie gerade in der Zeit hatte, in der jüdische Menschen, aus ihrer Heimat in Palästina vertrieben, über die halbe Welt verstreut lebten. Und mit dem Exil meint er hier vor allem jene Jahrhunderte, in denen ihnen ihr jeweiliges europäisches „Gastland“ sowohl Heimat als auch Hölle war, wie die Historikerin Barbara Beuys das genannt hat. Um zu erkennen, was daran Hölle war, brauchten sie die Bibel nicht. Wohl aber, um zu wissen, woher sie kamen, was sie wollten und sollten und wer sie waren. Um die Heimat, von der sie äußerlich getrennt waren, innerlich nicht zu verlieren. In einer Berliner Synagoge sagte ein jüdischer Prediger Anfang des 19. Jahrhunderts, Juden seien nun in Deutschland „keine Fremdlinge mehr aus dem Althertum“, aber „der Trost der alten Zeit, ihre Weisheit, die Kraft ihres Gesetzes ist uns geblieben.“Er sprach von nichts anderem als von jenem heiligen Buch, das Heine meinte, als er es ein portatives Vaterland nannte.

Wer heute, aus Syrien, Eritrea oder Tschetschenien geflüchtet, Zuflucht sucht in einem europäischen Land, führt wohl auch etwas wie eine tragbare Heimat mit sich. Bilder des Herkunftsortes. Geschichten, die dort erzählt werden. Heilige Texte, Gebete, Gesten. Die Sehnsucht nach der Mutter. Die eigene Religion. Ob er, ob sie eine neue Heimat findet in fremder Umgebung, das hängt auch davon ab, ob sich der Schmerz der Heimatlosigkeit verwandeln kann in das Gefühl, mit allem Mitgebrachten hier als Mensch unter Menschen angenommen zu sein.

Klaus Eulenberger, Morgenandacht (NDR-KULTUR) zum Thema ‚Heimat’, 7. Oktober 2015


 

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Landesaufnahmestelle Niedersachsen, Standort Bramsche


 Solches Mitfühlen und Solidarität verlangt angesichts gegenwärtiger Flüchtlingsströme in unser Land konkretes Handeln. Ich mache mich stark für einen einkommensabhängigen Solidaritätsbeitrag, damit den Flüchtenden angemessene Heimat geboten werden kann und den Helfenden  eine angemessene Bezahlung für ihren Einsatz gezahlt werden kann! 
November 2014

Inzwischen mehren sich  Stimmen auch aus dem politischen Umfeld für diese Forderung. Zuletzt Gregor Gysi in der Haushalts-Generaldebatte am 9. September 2015.


 

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                                          Kraft aus Abgeschnittenem                                           

KÜMMERT EUCH!

Angesichts der vielen Flüchtlinge, die in unserem Land Geborgenheit und Sicherheit suchen, ist es mir wichtig an dieser Stelle zu betonen , dass alle Themen und Angebote auf dieser Homepage einerseits gegen Polarisierung, Hetze, Hass und Gewalt gerichtet sind, anderer-seits aber auch das Potential von Barmherzigkeit freisetzen möchten.

Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch die Auseinandersetzung mit Gewalt- einerseitsund Barmherzigkeit-Impulsen andererseits in sich selbst und in der Lebensumgebung kennt. Beide Seiten bedürfen der inneren und äußeren ‚Fürsorge‘.

Die herabgesetzte Schwelle verschärfter und diskriminierender Sprache muss wieder die Schwelle der Scham erhalten. Die große Bereitschaft der Hilfe mit grenzüberschreitender Fantasie und Empathie braucht jede (vielleicht noch nicht) vorstellbare Unterstützung.  

Der Journalist  Ranga Yogeshwar rechnet vor: Wenn 1 Million Flüchtlinge in unser Land kämen, hieße das, dass sich 80 Menschen um einen Flüchtling kümmern.
August 2015

DAS SCHAFFEN WIR!


Jesus stieg auf den Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern nieder. Das Pascha, das Fest der Juden, war nahe. Als Jesus aufblickte und sah, dass so viele Menschen zu ihm kamen, fragte er Philippus: Wo sollen wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben?

Das sagte er aber nur, um ihn auf die Probe zu stellen; denn er selbst wusste, was er tun wollte. Philippus antwortete ihm: Brot für zweihundert Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll.

Einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus, sagte zu ihm: Hier ist ein kleiner Junge, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; doch was ist das für so viele!

Jesus sagte: Lasst die Leute sich setzen! Es gab dort nämlich viel Gras. Da setzten sie sich; es waren etwa fünftausend Männer.

Dann nahm Jesus die Brote, sprach das Dankgebet und teilte an die Leute aus, soviel sie wollten; ebenso machte er es mit den Fischen.

Als die Menge satt war, sagte er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrig gebliebenen Brotstücke, damit nichts verdirbt. Sie sammelten und füllten zwölf Körbe mit den Stücken, die von den fünf Gerstenbroten nach dem Essen übrig waren.

Als die Menschen das Zeichen sahen, das er getan hatte, sagten sie: Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll. Da erkannte Jesus, dass sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen. Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein.

Johannes 6,1-15


Johannes durchzieht diese Erzählung mit einer Botschaft: Die Kraft zum Handeln kommt aus Gebet und Dank!

Der Aufenthalt auf dem Berg ist Hinweis auf Gebet. Auf dem Berg, von den bedrängenden Lebens-Realitäten entfernt, findet die „Begegnung mit ‚Gott‘ in der Tiefe des Seins“ statt. So beginnt Johannes diese Erzählung und so endet sie auch.

Aus dieser ‚inneren Haltung‘ sieht Jesus die Realität! Die Jünger ihrerseits entwickeln gedanklich eine Logistik, die in die Sackgasse führt.

Das ist die Spannung, der wir in dieser Zeit begegnen. Einerseits: Die Aufforderung, sich um die Versorgung der Vielen zu kümmern und andererseits: Was ist das, was wir haben, unter so viele?

Die Aufforderung, das Problem der Flüchtlings-Versorgung anzupacken; die nüchterne Beschreibung der Realität, das Machbare habe Grenzen, erhalten einen zusätzlichen Aspekt: Das Vertrauen in die Kraft ‚von oben‘. Aus dieser Dynamik wird ‚geordnet‘ (‚Lasst die Leute sich setzen‘) und es wird geteilt.

Die Erzählung ist unmissverständlich: Vor dem Teilen steht das Vertrauen – das schafft Möglichkeiten und Lösungen. Es ist genug für alle da!
Nachdem alle satt geworden sind, werden noch zwölf Körbe Übriggebliebenes gesammelt – Zeichen der Fülle.

Solches Vertrauen formuliert aus Gewissheit: Das schaffen wir!

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Dank überwindet


OFFENER BRIEF AN FLÜCHTLINGE
OPEN LETTER TO REFUGEES
LETTRE OUVERTE AUX RÉFUGIÉS


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