Grundsätzliche Vorbemerkung

Von | 13. September 2013

 

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In der folgenden Darstellung beziehe ich mich auch auf Erkenntnisse aus dem Umgang mit Menschen, die von einer Suchtmittel-Abhängigkeit betroffen sind. Im Bedingungsgefüge einer Abhängigkeitserkrankung spielt der spirituelle Aspekt eine besondere Rolle. Die Aspekte einer Suchterkrankung stehen synonym für viele ‚Störungen‘, denen wir in diakonischer Tätigkeit begegnen.

Spirituelle Sprache

Im Laufe meiner langjährigen Praxis habe ich – häufig verdeckt – erhebliche Störungen und Verletzungen im spirituellen Bereich, dem Bereich der Bedürfnisse nach Bewusstseinserweiterung, der Einheit mit sich selbst und mit ‚Gott‘ erkannt.

‚Das spirituelle Leben gehört zum Wesen des Menschen. Ohne es ist die menschliche Natur nicht vollständig die menschliche Natur. Es gehört zum wahren Selbst, zur Identität, zum Kern des Menschen.‘ (1)

Werden diese (Meta)Bedürfnisse nicht befriedigt, wird der Mensch genau so krank wie bei der Nicht-Befriedigung seiner Grundbedürfnisse.

Von Carl Gustav Jung ist in einem Brief an den Mitbegründer der Anonymen Alkoholiker diese Aussage überliefert: Spiritus contra spiritum. Dabei verweist Jung darauf, dass die lateinische Sprache das gleiche Wort für die tiefste Erfahrung, die wir überhaupt machen können wie für das zerstörerische Gift Alkohol verwendet. Verkürzt gesagt, kann an dieser Wortgegenüberstellung die Erfahrung gelten: Die Grundsatzentscheidung, nicht mehr trinken zu wollen, ist eine spirituelle.

Der Theologe Paul Tillich beschreibt die ‚Dimension des Religiösen‘ als ein ‚Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht‘. Es hieße danach also, etwas zu erkennen, zu erspüren, was mich ‚unbedingt angeht‘ und mich davon ergreifen zu lassen.

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Es ist sinnvoll, einmal darauf zu achten, wie wir sprachlich in Momenten des Ergriffenseins formulieren. Wir tragen die ’spirituelle Sprache‘ in uns. Wie schnell kommt uns in uns bewegenden Momenten ein ‚O Gott‘ oder ‚Mein Gott‘ über die Lippen.

Das ist ein Hinweis, sich der spirituellen Wirklichkeit in Sprachsymbolen, fühlend, denkend, fantasierend zu nähern. So ist auch die Begrifflichkeit ‚Gott‘ ein Versuch, die eigene spirituelle Wirklichkeit zu beschreiben. Dieser Begriff ist allerdings für manche Menschen negativ besetzt. Es erscheint wichtig, eine eigene Begrifflichkeit zu finden. Wir brauchen eine ’spirituelle Sprache‘, um diesem wichtigen Bereich unseres Lebens näher zu kommen. Da es nicht möglich ist, in abstrakter Form von solchen inneren Vorgängen zu sprechen, bedürfen wir der hilfreichen Bilder.
Dazu auch MEIN SELBSTVERSTÄNDNIS.

Fulbert Steffensky (2) schreibt in einem Aufsatz: ‚Wer einmal mit dem Propheten Jesaja gelernt hat, dass ein Land versprochen ist; in dem auch der Lahme springt; in dem auch die Blinden sehen, in dem, auch die Stummen sprechen, der wird nicht völlig zuhause sein in einer Gegenwart, in der die Sprachlosigkeit so vieler als gegeben hingenommen wird und für die meisten Menschen nicht mehr ist als eine Wüste‘.

Kommen Bilder entsprechender ‚Hoffnungs-, Liebes- und Gerechtigkeits- Geschichten‘ der Bibel ins Gespräch, meldet sich ein ’spiritueller Durst‘ (3), vorher als solcher vielleicht gar nicht wahrgenommen. Über die Tradition hinaus schließen diese alten Erzählungen auf und entwickeln die Kraft der Hoffnung und Gewissheit, die sie über die Zeiten erhalten haben. Das fressende Loch der des ‚Gefangenseins‘ wird mit den religiösen Gewissheits-Bildern gefüllt. Es sind die Bild-Geschichten von Spiritualität und Ganzheit.

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Plakat Ökumenischer Kirchentag in München 2010

 

Ort der Spiritualität

Willigis Jäger (4) beschreibt die Grundlagen (mystischer) Spiritualität. Er unterscheidet die präpersonale, die personale und die transpersonale Ebene.

Die präpersonale (vorrationale) Bewusstseinsstufe ist die Stufe der Körper- und Sinneswahrnehmung, der Emotionen, einfacher bildhafter und symbolischer Erkenntnisse und mythischer Vorstellungen, jedoch ohne klare Erkenntnis.

Bei der personalen Bewusstseinsebene handelt es sich um unser Ich-Bewusstsein. Es ist das Alltagsbewusstsein mit seiner klaren Rationalität und Logik. Es ist die Ebene der Wissenschaft und begrifflichen Welterschließung.

Auf der transpersonalen Bewusstseinsebene übersteigt der Mensch sein Ich-Bewusstsein. Er taucht ein in eine das Ich transzendierende Wirklichkeit. Auf der subtilen Ebene geschieht dies in Gestalt von Bildern und Symbolen und auf der kausalen Ebene kommt es zu einer Einheitserfahrung mit einem Gegenüber – etwa mit einem personalen Gott, ganz gleich, ob dieser nun Buddha, Brahma, Jahwe, Christus oder Allah heißt. Es ist die Erfahrung des Einsseins, der Einheit der eigenen Identität mit dem Ursprung, aus dem alles kommt.

In der Erzählung vom ‚Fischzug des Petrus‘ kommt das ‚Eintauchen‘ in diese Wirklichkeit zum Ausdruck, wenn Petrus ausruft: ‚Ich bin ein sündiger Mensch!“ Die ‚personale Ich-Identifikation ist gleichsam in ihrem Allein-Anspruch zusammengebrochen. ‚Die mystische Erfahrung bringt den Menschen dahin, dass er sich nicht mehr mit diesem vordergründigen Ich identifiziert und dadurch frei wird für eine Wirklichkeit, in der das Ich nicht mehr dominiert‘.(4) In der genannten Erzählung wird Petrus frei für den Auftrag: ‚Von nun an wirst du Menschen fischen‘.
Lukas-Evangelium 5,1-11

(1) Abraham Maslow, Theorie der Metamotivation
(2) Fulbert Steffensky, „Ganzheit im Fragment“
(3) Carl-Gustav Jung
(4) Willigis Jäger,Begründer des Meditationszentrums St. Benedict in Würzburg „Die Welle ist das Meer“

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