Code knacken

Von | 28. Dezember 2014

 HERZENS-BLICK

 

Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob!

Römer 15,7

LEITWORT FÜR DAS JAHR 2015


‚Ich nehme dich an, so wie du bist!‘

Das ist eine wirklich befreiende Botschaft in Krisensituationen, wenn Menschen genau darunter leiden,  nicht wirklich so akzeptiert zu sein, wie sie sind, sie fühle, sie denken und handeln.

Ist diese Zusage überhaupt möglich? Ist das nicht eine gewaltige Selbstüberschätzung – sowohl für den, der diese Zusage braucht als auch für den, der sie leisten soll.

Der Autor des  ‚LEIT-WORTES‘ für das Jahr 2015 hat  ähnlich verfahrene Beziehungssituationen vor Augen und er weiß, wie befreiend es ist, aus einer Sackgasse durch einen solchen Zuspruch herauszufinden.

Paulus hat es am eigenen Leib erfahren. Seine große Veränderung von einem ‚Terroristen‘ zu einem beispiellosen ‚Botschafter von Freiheit‘ war äußerst schmerzreich. Er konnte nach einem sein Leben veränderndes Ereignis plötzlich die annehmen, die er vorher Leben verachtend verfolgte und wegen ihrer gelebten Haltung hinter Gitter brachte.

Schlüssel zur Freiheit bringen

Er stand unter der Spannung befriedigender Erfolge aus vormals ausgeübter Macht einerseits und der plötzlichen Kehrt-Wende, die ihn in akute Bedrohungs-Situationen führte. Viele waren überrascht, aber auch unsicher. Nicht wenige verdächtigten ihn und nahmen ihn nicht so an, wie er sich ihnen zeigte. Auch eine Art von ‚Gefängnis‘.

Dieses nachgewiesene Beispiel aber reicht nicht aus, um aus einer extremen Biografie die Legitimation für eine solche Haltung ‚Nehmt einander an ..‘ für uns heute abzuleiten.

Unter der gegenwärtigen Herausforderung so vieler, die anders sind, die bei uns oder woanders leben, bedarf es einer nachvollziehbaren Begründung. Das ‚Anders-Sein‘ hat so viele Facetten. Sie reichen von extremen Ansichten bis zu ‚fremdem‘ Verhalten und die Akzeptanz wird schwieriger.

Wenn ich bei der Aussage des Leit-Wortes bleibe, dann liegt die Begründung der Aufforderung im zweiten Teil ‚…. wie Christus euch angenommen hat …‘.

So stellt sich die Frage: ‚…und wie hat Christus angenommen?‘

Wie geschah es, wenn Jesus zu seinen Lebzeiten Menschen ‚annahm‘? Eine für mich herausragende Erzählung ist die Begegnung Jesu mit dem Zöllner Zachäus. Der ist in seinem Gehabe und seiner Selbstdarstellung so ‚zum Kotzen‘, dass das ablehnende Verhalten der ihn umgebenden Menschen nur verständlich ist. In der Erzählung wird das fast nebenbei  betont, wenn von seiner ‚kleinen Gestalt‘ berichtet  und  ihm bewusst die Sicht versperrt wird.


1 Dann kam er nach Jericho und ging durch die Stadt.
2 Dort wohnte ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war sehr reich.
3 Er wollte gern sehen, wer dieser Jesus sei, doch die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht; denn er war klein.
4 Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste.
5 Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.
6 Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf.
7 Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt.
8 Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.
9 Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.
10 Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.

Lukas 19, 1-10


Natürlich kennt Jesus diesen Zoll-‚Typen‘. Was aber ist geschehen, dass er diesen Mann in einer Weise annimmt, die mehr als eine freundliche Bemerkung ist? Das ist schon befremdlich, sich bei einem solchen auch noch mit der Besatzungsmacht kollaborierenden ‚Widerling‘ einzuladen.

Dieses Geschehen am Baum am Straßenrand ist Schlüssel-Szene und sie erläutert mir die ‚Begründung‘. 

 Das ‚Hinauf-Schauen‘ ist viel mehr als eine Kopfbewegung. Es ist die Bewegung des Herzen, das ‚mehr und besser sieht als die Augen es können‘.

Das Herz sieht die Bedingungen, unter denen sich das andere abstoßende Verhalten entwickelt hat. Es sieht die Wut gegen die eigene Hilflosigkeit. Es sieht die Enttäuschung nach allen vergeblichen Versuchen, aus diesem Gefühlswirrwarr von Selbstmitleid und  aggressiven Aufbegehren herauszufinden. Es sieht die Not und gleichzeitig die Sehnsucht nach Erlösung.

Hinter dem ‚Anders-Sein‘ sieht das Herz die uns alle verbindende Sehnsucht nach ‚Verstanden- und Angenommen-Sein‘. Das Herz ‚entschlüsselt‘ den ‚Verhaltens-Code‘, der vordergründig Annahme häufig so schwierig macht.


In der Theorie wird die Bedeutung der De-Codierung von Botschaften in einem Beispiel verdeutlicht.

Sohn / Tochter kommt von der Schule nach Hause und fragt die Mutter herausfordernd und nicht besonders freundlich:
‚Wann ist das Essen fertig?‘

Die Mutter schaut ihr Kind an und sagt freundlich:
‚Du hast sehr großen Hunger.‘

Sohn / Tochter antwortet: ‚Ja,  und die Schule war sehr anstrengend!‘


Wir alle verhalten uns in prekären Situationen aus Selbstschutz ‚codiert‘. Die ‚wahre‘ Begründung bleibt häufig in der Art des Sprechens und des Verhaltens ‚verdeckt‘. Sie ist gefährdet und muss ‚verborgen‘ bleiben, um überleben zu können. Das gilt für eigenes und bei anderen wahr genommenes Verhalten.

Das Herz schaut dahinter und kann erkennen und offenbar machen. Dazu bedarf es größter Behutsamkeit. Diese Kompetenz nennen wir Empathie und sie ist frei von Gewalt und Manipulation. So hat Jesus angesehen und die wirkliche Bedürftigkeit  erkannt. Sie ist die verborgene Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe.

Beim wöchentlichen Friedens-Gebet formulieren wir so: Wer sich Gott anvertraut, traut sich dieser Kraft an, bündelt die Friedens-Kräfte, und erkennt hinter Krieg und Gewalt die Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe.

Das Leit-Wort also hält nicht irgendeinen ‚Trick‘ bereit, damit ‚Annahme‘ gelingen kann, sondern es wirft auf die eigene Bedürftigkeit zurück. Diesen ‚Herzens-Blick‘ ermöglicht die gelebte Beziehung zu ‚Gott‘!

Den so ‚ganz anderen‘ Menschen, auch das eigene ‚Befremdliche‘  zu ‚Gottes Lob‘ annehmen, bedeutet, das Kraft-Gefüge ‚GOTT – DU – ICH‘ zu nutzen, um den –  auch eigenen! – ‚Sicherheits-Code‘ liebe- und respektvoll zu knacken , um heilende Beziehung zu sich und anderen gestalten zu können: ‚Ich gebe zurück, wo ich andere für meine Vorteile missbraucht habe…‘

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Weitere Impulse


WER BIN ICH?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich trete aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

 

Dieses Gedicht schrieb Dietrich Bonhoeffer im Militärgefängnis Berlin-Tegel
und legte es einem
Brief an seinen Freund Eberhard Bethge am 8. Juli 1944 bei.
Abgedruckt in Dietrich
Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft.
Hrg. von E.
Bethge u.a. (Bd. 8 der Werkausgabe) Ed. Kaiser im Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 1998, S. 513f


Gedanken zur ‚Begegnung am Baum‘ vertiefen möchte, findet HIER eine Anregung.


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